Wie funktioniert unsere Welt? Seit der ersten Verwendung eines Steines oder eines Knüppels als Werkzeug oder Waffe stehen Technik und Menschen in einer Wechselwirkung zueinander. Technikgeschichte soll klären, wie Technik entsteht und wie sie sich auf Menschen und Gesellschaft auswirken. Vielleicht verstehen wir dann auch, welche Probleme Technik lösen kann, und, mindestens genauso wichtig, welche Probleme Technik nicht lösen kann.
Personen
Denis Papin (*1647 - †1712? )
war eine der denkwürdigen Figuren der Wissenschaft.
Der junge Doktor der Medizin verbrachte seine Zeit lieber im Laboratorium bei Experimenten und arbeitete um 1673 als Assistent bei Christiaan Huygens (→ Huygensches Prinzip) in Paris an der Entwicklung einer Pulverkraftmaschine. Mit dieser Pulverkraftmaschine sollte ein Wasserhebewerk zur Versorgung der Wasserspiele von Versailles angetrieben werden. Bei Huygens lernte er auch Gottfried Wilhelm Leibniz kennen ("der letzte Universalgelehrte", z.B. → Satz von Leibniz), der einige Jahre in Paris verbrachte. Papin und Leibniz korrespondierten den Rest ihres Lebens miteinander.
Bei Huygens erwarb sich Papin den Ruf eines geschickten Mechanikers und Experimentators, der bis London drang. 1675 folgte er der Einladung von Robert Boyle (→ Gasgesetz von Boyle und Mariotte) nach London, wo er mit Boyle und später Robert Hooke (→ Hookesches Gesetz) arbeitete und Mitglied der Royal Society wurde.
Bei Boyle erfuhr Papin, dass die Siedetemperatur von Wasser umso höher liegt, je höher der Druck ist. Dieses theoretische Wissen setzte er praktisch in den Bau eines Dampfkochtopfes um, der allerdings bei der ersten Vorführung den Mitgliedern der Royal Society um die Perücken flog. Nur mit Mühe konnten sie dazu bewegt werden, einer zweiten Vorführung beizuwohnen. Diesmal war der Versuch erfolgreich, weil Papin den Dampfkochtopf mit einem Überdruckventil versehen hatte (1681). Das gab es damals noch nicht im Baumarkt zu kaufen: Papin musste erst das Problem verstehen (kaum jemand wusste, was Dampf und Dampfdruck ist), eine Lösung finden (Überdruck ablassen), das Überdruckventil konstruieren und nicht zuletzt mit den verfügbaren einfachen Methoden bauen.
Viel Erfolg hatte Papin mit dem Dampfkochtopf nicht, weil ein gewisser Rumford, damals General des bayrischen Kurfürsten, meinte, man könne im Dampfkochtopf auch die minderwertigsten Nahrungsmittel verfeinern. Nachdem diese kostensparende Geschmacklosigkeit von den Wohlhabenden begeistert und in großem Maßstab in Armenküchen umgesetzt wurde, litt der öffentliche Ruf Papins erheblich, obwohl er nichts damit zu tun hatte.(Diese Interpretation von Kiaulehn muss geprüft werden, denn der genannte Rumford lebte erst lange nach Papin: Benjamin Thompson, Reichsgraf von Rumford, * 26. März 1753 in North Woburn, Massachusetts; † 21. August 1814 in Auteuil bei Paris.)
Die erste Londoner Zeit war von einer 3-jährigen experimentellen Tätigkeit in Venedig unterbrochen. In seine Heimat Frankreich konnte der Hugenotte Papin nicht mehr zurückkehren, nachdem Louis XIV 1685 mit dem Edikt von Nantes die Religionsfreiheit für Protestanten aufgehoben hatte.
Seine Erfahrungen mit Dampf setzte Papin auch in den Bau von Luftdruck- bzw. Dampfdruck-Kanonen um, die er allen Nachbarn Frankreichs anbot. Persönlich war er nach seiner Vertreibung wohl von der Abneigung gegen die französische Monarchie motiviert. Interesse fanden seine Arbeiten, weil Frankreich unter Louis XIV als Störenfried in Europa empfunden wurde. Zeugnisse dieser aggressiven Periode Frankreichs findet man im ganzen deutsch-französischen Grenzgebiet in Form zerstörter Burgen (Heidelberger Schloss, Röttler Burg, Festung Hohentwiel) oder gebauter Festungsanlagen (Neuf-Brisach).
So kam er mit dem Landgrafen Karl von Hessen-Kassel in Kontakt, der ihn an seinen Hof rief und zum Professor der Mathematik an der Universität von Marburg machte. Außerdem war Papin in Hessen für Technik zuständig, vornehmlich für Militärtechnik, Wasserbau und Belustigungen. Man ergötzte sich damals eben an technischen Kuriositäten genauso wie an wilden Tieren und monströsen Menschen.
Neben seinen vielen Aufgaben gelangen Papin in Hessen einige wichtige Erfindungen. 1692 führte er in Kassel mit einigen Gehilfen die erste Fahrt eines Unterwasserschiffes durch.
Leider war auch dieser Erfolg seinem Ruf nicht zuträglich. Bei der ersten Vorführung seines Unterwasserschiffes vor tausenden von Zuschauern brach ein Kran, was zum Totalverlust des Bootes führte. Papin wurde in der Öffentlichkeit ausgelacht, obwohl es der Fehler eines Zimmermannes war. Für den zweiten Versuch lud Papin nur noch ein kleines Fachpublikum ein, das wiederum den nunmehr beobachteten Erfolg nicht in der breiten Öffentlichkeit bekannt machte. Man sieht, dass das Problem rufschädigender Medien nicht eben neu ist. Und doch schreitet die Entwicklung der Menschheit unaufhaltsam voran: Es gibt jetzt Medienberater.
Misserfolge haben alle Wissenschaftler, aber Misserfolge bei Experimenten mit Pulver und Dampfdruck führen zwangsläufig zu Explosionen, die weithin sicht- und hörbar sind. Und weil Papin nach einer Explosion immer allen Gaffern aufgeregt erklärte, was schief gegangen war und warum es beim nächsten Male klappen würde, hatte er in der Öffentlichkeit den Ruf eines Schwätzers, dem alles daneben ging.
Der bedeutendste Erfolg Papins war der Bau der ersten praktisch funktionierenden Wärmekraftmaschine. Nachdem er die Huygensche Pulverkraftmaschine immer weiter verbessert hatte, stand er vor dem Problem des toten Raumes im Zylinder: Die Verbrennungsgase verlassen den Zylinder nicht vollständig, der Kolben kann nie bis zum Boden des Zylinders fahren. Während moderne Verbrennungsmotoren den toten Raum in Kauf nehmen, wollte Papin das Problem lösen, und zwar mit der Verwendung von Dampf statt Pulver, weil man Dampf durch Abkühlung kondensieren und damit praktisch verschwinden lassen kann. Auf diesen Gedanken konnte Papin auf Grund seiner Erfahrungen mit Dampf kommen. Leibniz nannte ihn damals den besten Kenner der Gase.
Papins Versuchsmaschine, über die er 1690 berichtete, war letztendlich ein Zylinder, in dem sich ein bisschen Wasser und ein genau eingeschliffener Kolben befanden. Wenn man den Zylinder von außen abwechselnd erhitzte und abkühlte, verdampfte und kondensierte das Wasser, der Kolben bewegte sich auf und ab und man konnte mechanische Arbeit abnehmen. Diese Dampfmaschine war primitiv, aber sie funktionierte und war damit die erste Wärmekraftmaschine, der erste Motor der Welt.
Immer wieder, wenn die Zeit reif ist für eine technische Entwicklung, wird sie an mehreren Orten unabhängig voneinander erfunden. Bevor Papin seine Maschine verbessern konnte, erfand Thomas Savery in England eine Dampfdruckpumpe und ließ sie 1698 patentieren. Über Savery ist wenig bekannt, aber er scheint die Erkenntnisse anderer Forscher zusammengefasst und praktisch umgesetzt zu haben. In England gilt er als Erfinder der Dampfmaschine.
Immerhin überzeugte dieses Beispiel den hessischen Landgrafen, der sich ein Wasserspiel nach dem Vorbild von Versailles wünschte, von den Möglichkeiten einer Dampfmaschine, und er gewährte Papin Zeit und Geld für den Bau einer Dampfdruckpumpe. 1706 ging Papins Dampfdruckpumpe für die Kasseler Springbrunnen in Betrieb (siehe Prinzipskizze). Im Kessel 1 wird Wasserdampf erzeugt, der Dampfdruck wird durch das Überdruckventil 2 begrenzt. Wenn man das Ventil 3 öffnet, strömt der Dampf in die Schwimmerkammer 4 und drückt auf den Schwimmer und das darunter befindliche Wasser. Der Schwimmer dient der Wärmeisolation zwischen Dampf und Wasser. Der Dampfdruck drückt das Wasser durch die Steigleitungen 6 in den Hochbehälter 9, wo das Wasser für Springbrunnen o.ä. wieder entnommen werden kann. Wenn man das Ventil 3 schließt und das Ventil 5 öffnet, entweicht der verbrauchte Dampf aus dem Arbeitsraum 4, und Wasser strömt aus dem Vorratsbehälter 8 am Rückschlagventil 7 vorbei in die Schwimmerkammer. Gleichzeitig muss das Rückschlagventil 10 schließen und verhindern, dass Wasser aus der Steigleitung zurückfließt. Der Zyklus kann von vorne beginnen.
Leider förderte Papins Pumpe nur wenige Fontänen Wasser, bevor die kupfernen Steigleitungen durch den Wasserdruck undicht wurden. Bessere Leitungen waren in Hessen nicht schnell zu beschaffen. Der Landgraf verlor sein Interesse am Wasserspiel und ignorierte Schriften Papins, in der er um Errichtung von Fabriken und Schulen zur Ausbildung von Mechanikern bat.
Papin verlor sein Interesse am Landgrafen und ging 1707 wieder nach London, weil er dort mehr Unterstützung für seine Dampfmaschinen erhoffte.
Um Aufsehen zu erregen, wollte er in London mit einem neuartigen Schiff einfahren, das über muskelbetriebene Schaufelräder verfügte und schneller sein sollte als Ruderboote. Aber das Boot ging im Streit zwischen der Mindener Schiffergilde und dem Kasseler Landvogt um Wegezoll verloren. 296 Jahre später sind Schaufelräder von Schiffsschrauben abgelöst worden, aber der Streit um Wegezoll bleibt in den Schlagzeilen. Aktuell geht es um Lkw-Maut (2003).
In London waren die Mitglieder der Royal Society nicht mehr die Alten, und Papin machte den Fehler, Sir Isaac Newton, dem neuen Präsidenten der Royal Society, ein Empfehlungsschreiben seines Freundes Leibniz vorzulegen, nicht wissend, dass Newton und Leibniz im erbitterten Streit darüber lagen, wer die Infinitesimalrechnung erfunden habe. Leider war Newtons menschliche Größe weit entfernt von seiner wissenschaftlichen, und er lehnte Papin ab. Papin arbeitete und erfand zwar weiter, z.B. das Treibhaus, geriet aber in Vergessenheit. Nicht einmal sein Todesjahr ist sicher bekannt, 1712 ist das Jahr seines letzten erhaltenen Schreibens.
In gewissem Sinne demonstriert die Geschichte Papins auch den Grund, warum England die erste Industrienation wurde.
Die Handwerker auf dem Kontinent waren nicht schlechter als diejenigen in England. Aber sie waren nach den Religionskriegen eingeklemmt zwischen Fürsten und Zünften, die alle Eigeninitiative behinderten. Handwerk und Bergbau erstarrten in Handwerksordnungen, Bergregalen und Feudalrechten. Technische Entwicklungen wurden von Fürsten oft nur gefördert, wenn sie sich Spielzeuge wünschten. Nur ganz selten hatten Fürsten wie Friedrich der Große die Einsicht, dass man die Wirtschaft eines Landes mit Hilfe von Maschinen besser voranbringen könne als durch das Ausbeuten seiner Untertanen. Diese Einsicht wird übrigens noch lange außergewöhnlich bleiben: Im Jahre 2003 wollen deutsche "Fürsten" die Probleme wieder durch Mehrarbeit "ihrer" "Untertanen" statt durch bessere Verwaltung lösen. Tempora mutantur? Ändern sich die Zeiten wirklich?
Dagegen waren englische Unternehmer frei genug, wirtschaftliche Probleme unternehmerisch zu lösen und damit die wirtschaftliche und technische Entwicklung voranzutreiben. Und sie brauchten dringend eine Lösung für das Problem absaufender Bergwerke, die in immer größeren Tiefen mit der traditionellen Technik nicht mehr entwässert werden konnten.
Die Dampfdruckpumpe von Savery brachte diese Lösung übrigens noch nicht, weil sie wegen der Unzulänglichkeiten der Konstruktion und der damaligen Fertigungsmöglichkeiten nicht genügend Leistung brachte. Aber sie war ein Ansatz wie die atmosphärische Dampfmaschine von Thomas Newcomen (1712), die dann zu den entscheidenden Verbesserungen von James Watt führte (1767).
Quellen
Die inhaltlichen Angaben stammen aus:
Walther Kiaulehn: Die eisernen Engel
Conrad Matschoss: Geschichte der Dampfmaschine enthält ein ausführliches Kapitel zu Papin, das hier noch nicht eingearbeitet ist. Ist bald nicht mehr nötig, denn Mitte 2012 läuft das Urheberrecht aus…
Matschoss zitiert einige Briefe von James Watt. Hier ein Auszug von James Watt an Dr. Erasmus Darwin (= Darwin sen.), 24.11.1789: "Papin trat fast gleichzeitig auf und war wohl von allen das größte Genie. Er erkannte, wenigstens glaube ich das, die Einspritzkondensation. Wenn dies aber der Fall war, so war er der erste Erfinder, noch früher als Savery, der selbst, wenn Papin keinen Anspruch auf die Einspritzkondensation haben sollte, jedenfalls dieselbe erfunden hat. Und welche prachtvolle Erfindung war dies! "
Die atmosphärische Dampfmaschine von Thomas Newcomen (1712)
Geplant: Funktionsweise der Maschine
Thomas Newcomen (1663 - 1729)
James Watt und die entscheidenden Verbesserungen der Dampfmaschine
Leben und Entwicklungen von James Watt.
Otto von Guericke (1602 - 1786)
Links
- Zahlreiche geschichtliche Publikationen findet man bei der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen . (10/2007)
- Das Bauhüttenbuch von Villard de Honnecourt (ca. 1230 - 1235) ist eines der ersten gezeichneten Zeugnisse europäischer Technik. (08/2021)
Literaturhinweise
Conrad Matschoss: Geschichte der Dampfmaschine
Ihre kulturelle Bedeutung, technische Entwicklung und ihre großen Männer
1901 (Original), 450 Seiten, Gerstenberg Verlag Hildesheim (Nachdruck 1982).
Sigvard Strandh: Die Maschine
Geschichte, Elemente, Funktion
Ein enzyklopädisches Sachbuch
1992,240 Seiten, Weltbild Verlag, Augsburg
Dieter Hägermann / Helmuth Schneider / Karl-Heinz Ludwig / Volker Schmidtchen / Akos Paulinyi / Ulrich Troitzsch / Wolfgang König / Wolfhard Weber / Hans-Joachim Braun / Walter Kaiser:
Propyläen Technikgeschichte in 5 Bänden
1997, insgesamt knapp 3000 Seiten, Ullstein Verlag
Donald Cardwell: Viewegs Geschichte der Technik
übersetzt von Peter Hiltner
1997 (engl. Original 1994), 346 Seiten, Vieweg Verlag
Walther Kiaulehn: Die eisernen Engel
1953,320 Seiten, Rowohlt Verlag
"Geburt, Geschichte und Macht der Maschinen von der Antike bis zur Goethezeit"
Prof. U. Troitzsch / Prof. W. Weber: Die Technik
Von den Anfängen bis zur Gegenwart
1987,640 Seiten, Westermann Schulbuchverlag
John Gray Landels: Die Technik in der antiken Welt
Aus dem Englischen übertragen von Kurt Mauel
1989 (Original 1978), 276 Seiten, Verlag C.H.Beck
Tom Shachtman: Minusgrade - auf der Suche nach dem absoluten Nullpunkt
2001 (amerikanisches Original 1999), 317 Seiten, rororo
Wissenschaftsgeschichte von Galilei über Boyle, Amontons und Carnot bis Müller / Bednorz.
Gerhard Arnold: Bilder aus der Geschichte der Kraftmaschinen
1968,84 Seiten, Heinz Moos Verlag, München
Hans Joachim Stöhrig: Weltgeschichte der Wissenschaft
1992,820 Seiten in 2 Bänden, Weltbild Verlag, Augsburg
Ernst Peter Fischer: Aristoteles, Einstein & Co.
1995,442 Seiten, Piper Verlag
Thomas Tredgold: Grundsätze der Dampfheizung
1826 (englisches Original), 1837 (deutsches Original übersetzt von Otto Bernhard Kühn), ca. 250 Seiten, Nachdruck 1983 Schäfer Druck
Leopold Niederstraßer: Leitfaden für den Dampflokomotivdienst
1940,491 Seiten, Verkehrswissenschaftliche Lehrmittelgesellschaft
Findet man ab und zu noch auf Flohmärkten und in Antiquariaten.
Franz Stade: Die Holzkonstruktionen
1904 (Nachdruck ohne Jahresangabe, 372 Seiten, Reprint-Verlag-Leipzig )
Friedrich Neumann: Die Windkraftmaschinen
Windmühlen, Windturbinen und Windräder
Titel des Nachdrucks: Windmühlen - Windräder und Windturbinen als Windkraftmaschinen
1907 (Original), (Nachdruck ohne Jahresangabe, 175 Seiten, Reprint-Verlag-Leipzig )
Georg Agricola: De Re Metallica Libri XII
Zwölf Bücher vom Berg- und Hüttenwesen
1556 (Lateinisches Original), 1928 (Übersetzung), 564 Seiten, fourierverlag (Nachdruck)
Agricola ist nicht mehr ganz aktuell, glänzt aber immer noch mit seinen herausragenden Illustrationen.
Bei der Bibliothek für Wirtschafts- und Sozialgeschichte / Köln können Sie eine deutsche Übersetzung von De Re Metallica als PDF-Datei herunter laden.